A n z e i g e n

Der Ruhestand im Schattenwurf der industriellen Revolutionen

Beitrag von: Wolfgang Schiele

Unternehmen: Coaching50plus

Seit wann sprechen wir eigentlich vom “Ruhestand”? In welcher Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung betrat der Ruhestand als Pendant zum Arbeitsleben die Bühne der gesellschaftlichen Entwicklung? Und stellte einen fühl- und messbaren Entwicklungsabschnitt im Leben dar?

Die erste industrielle Revolution, die in der Mechanisierung von Arbeitsprozessen mit Wasser- und Dampfkraft bestand und dem Menschen bestimmte schwere körperliche Arbeiten abnahm, kannte noch keinen wirklichen Ruhestand. In dieser Zeit musste man sich den “Ruhestand 1.0″ aus eigenen gesparten Mitteln finanzieren. Da das Volk aber regelmäßig dazu nicht in der Lage war, war es gezwungen, das gesamte Leben arbeits- und damit erwerbsfähig zu bleiben. Oder ab einer bestimmten Altersphase von der Familie unterstützt und durchgefüttert zu werden. Es fand also praktisch gar kein Ruhestand 1.0 statt – er war einfach existenziell unerreichbar für das gemeine Volk.

” Unterm Strich war die Rente Anfang des 20. Jahrhunderts ein Obolus, ein kleines Zubrot zu den wenigen materiellen Mitteln…”

Dass es heute den Ruhestand gibt, ist u. a. dem letzten Baustein der Sozialsysteme, der gesetzlichen Rentenversicherung, die auf Betreiben Otto von Bismarck 1889 im damaligen Deutschen Kaiserreich eingeführt wurde, zu verdanken. Die Einführung des gesetzlichen Rentensystems fiel in eine Zeit, die geprägt war durch die Nutzung der elektrischen Energie sowie den Beginn der Massenfertigung durch die konsequente Anwendung der Fließbandproduktion. Sie wurde später als zweite industrielle Revolution bezeichnet. Um mit unserer heutigen Terminologie zu reden: als Industrie 2.0. Wer in dieser Zeit das große Glück hatte, den 70. Geburtstag feiern zu dürfen, kam in den Genuss einer staatlichen Rente. Allerdings beruhte sie noch nicht auf dem heute praktizierten Solidarprinzip, wurde nur durch geringe Beiträge von bis zu 3,5% des Arbeitsverdienstes gespeist und bedurfte immer wieder einer staatlichen Steuerstützung, um überhaupt ausbezahlt werden zu können. Unterm Strich war die Rente Anfang des 20. Jahrhunderts ein Obolus, ein kleines Zubrot zu den wenigen materiellen Mitteln, die der kleine Mann oder die Frau angespart hatte. Somit gelangten in dieser Entwicklungsetappe der Produktivkräfte nur wenige in die Phase des “Ruhe-Standes”. Auch, weil die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen bei 48 Jahren lag und die der Männer lediglich bei 45 Jahren, die allerdings auch aus einer hohen Kindersterblichkeit resultierte. Wenn man aus dem Arbeitsleben – meist wegen gesundheitlicher oder betrieblicher Gründe ausschied – dann ging man in Rente oder Pension. Der “Ruhestand 2.0″ bedeutete einen tatsächlichen “Stand der Ruhe” – weiter Arbeiten war wegen der körperlichen Gebrechen meist nicht möglich und die medizinische Versorgung war noch nicht in der Lage, die Berufs- bzw. die Arbeitsfähigkeit nachhaltig positiv zu beeinflussen. Das Zeitfenster zwischen dem Ausscheiden aus dem Beruf und dem Abschied aus dem Leben war jedoch klein, ehrenamtliche Tätigkeit wenig verbreitet oder den höheren Gesellschaftsschichten vorbehalten und der Antrieb der Menschen, noch “etwas zu unternehmen”, durch fehlende Mittel und Möglichkeiten gehemmt. Man “genoss” seinen kurzen Lebensabend, so lange es eben ging – meist in Armut oder angewiesen auf die Almosen und die Unterstützung der jüngeren Familienmitglieder.

Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, nachdem Konrad Zuse den ersten Computer der Welt gebaut und die Elektronik die nächste technische Revolution eingeleitet hatte, vollzogen sich auch Änderungen im Rentensystem. Die Rentenfinanzierung wurde von nun an im Generationenvertrag festgeschrieben, die Jüngeren arbeiten für die Rente der Älteren und das Rentenniveau nahm in Folge der stetig steigenden Produktivität weiter zu. Das Gesundheitswesen leistete einen entscheidenden Beitrag zur Langlebigkeit der Menschen und in (West)Deutschland nahm in Folge des Wirtschaftswunders der Wohlstand weiter zu. Die dritte industrielle Revolution hielt Einzug in der alten Welt und die Menschen begannen, ihren Ruhestand, der regelmäßig mit 65 Lebensjahren startete, zu genießen.

“Zwanzig Jahre Lebenszeitgewinn im Vergleich zum Jahr 1900!”

Und die Lebenserwartung? Sie lag um 1950 bereits bei 64 (Männer) und 68 Jahren (Frauen). Zwanzig Jahre Lebenszeitgewinn im Vergleich zum Jahr 1900! Und viele Menschen kamen mit ihrer Rente aus, konnten zwar nicht immer ihre verschobenen Träume leben, aber sich einen Lebensabend in Würde und Sicherheit leisten. Die Politik hatte ein viel versprechendes Wahlkampfthema und viele Menschen waren der Überzeugung, dass die Rente sowohl der Verdienst als auch die Belohnung der Nachkriegsgeneration darstellt. Der “Ruhestand 3.0″ war nach Meinung des späteren Sozialministers Norbert Blüm sicher und die Generation der zwischen den Weltkriegen Geborenen folgte ihm fast unwidersprochen. Das System funktionierte in der prosperierenden Wirtschaft. Aber noch kam es nicht wirklich zu einer neuen Lebensetappe der Menschen, denn zwischen der Zeit des Eintritts in die Rente und dem voraussichtlichen Ableben lagen immer noch nur wenige Jahre. Man malochte einfach zu lange und starb (noch) zu früh.

Erst die Babyboomer, die zwischen 1956 und 1965 Geborenen, traten in eine neue “Zeit-Rechnung” ein und bestimmten ihr “Zeit-Alter”: Die Rente – mehr und mehr gesellschaftlich zum “Fels in der Brandung” der Alterssicherung mystifiziert – mutierte zu einem entscheidenden Wahlkampfthema, zu einem Zünglein an der Waage im Widerstreit der großen und der vermeintlichen Volksparteien. An diese Klientel blieben denn die Geschenke auch nicht aus: Mütterrente, abschlagfreie Rente mit 63 für 45 Jahre Berufsausübung …


Veränderung der Lebensarbeitszeit – Grafik: Wolfgang Schiele

Was ich als frischer Sechziger heute nüchtern feststelle, ist der Umstand, dass sich innerhalb etwa meiner Er-Lebenszeit – also zwischen 1954 und heute – die aktive Berufsverbleibspanne von durchschnittlich 47 auf nunmehr 35 Jahre verkürzt hat: Wir treten durch langanhaltende Ausbildung immer später in den beruflichen Prozess ein und verlassen ihn mit oder ohne Rentenabschläge immer früher! Gleichzeitig ist die Lebenserwartung von 64/68 auf 78/83 (Frauen/Männer) Jahre – also im Vergleich zu 1950 um rund 15 Jahre gestiegen! Wir bleiben immer länger fit und arbeitsfähig. Andererseits folgen uns die geburtenschwachen Jahrgänge; die Personaldecke in Wirtschaft und Verwaltung wird in den nächsten zehn Jahren immer dünner und löchriger. Experten rechnen um 2025 mit einem Arbeitskräftedefizit von bis zu 7 Millionen. Und als ob das noch nicht genug Elend wäre: uns laufen die für die Umgestaltung der Wirtschaft zur “Industrie 4.0″ so dringend benötigten Fachspezialisten zuerst weg. Zum Beispiel in die Rente mit 63. Weil sie den Fachkräften eher ausreicht, als den weniger Qualifizierten, die jedes Rentenpünktchen benötigen, um später überleben zu können. Wir müssen nicht mehr nachrechnen, was passieren wird. Wir wissen es intuitiv: wir gehen auf einen Kollaps der bisherigen Sozialsysteme und den herben Verlust an gesamtgesellschaftlichem Wohlstand zu.

Was ich aber auch feststelle ist: Ich persönlich kann mich glücklich schätzen, einer Alterskohorte anzugehören, der es so gut wie bisher keiner anderen in der Historie der Bundesrepublik und der gesetzlichen Rente ergangen ist. Und ich kann noch eines: meinen ganz persönlichen “Ruhestand 3.0″ als eine neue, statistisch gesehen 20 Jahre anhaltende Lebensphase, die es in der Geschichte bisher noch gar nicht gab, betrachten. Ein komfortables Lebenszeitfenster, das eigentlich viel zu schade ist, um es im Stand der Ruhe zu verbringen. Das Klischee des “Unruhestandes” bringt es auf den Punkt. Wir sind viel zu fit, gesund und aktiv und im statistischen Durchschnitt materiell gut genug ausgestattet, um die geschenkte Zeit ungenutzt und in Ruhe verstreichen zu lassen. Das zeigt sich auch in der kontinuierlich ansteigenden Zahl der Menschen über 65, die noch einmal ihre Wunschträume in freier persönlicher Entscheidung leben wollen und ihre Arbeitsinhalte und -bedingungen für diese Zeit der “Späten Freiheit” selbst definieren. Die aus Eigeninitiative in den Arbeitsprozess zurückkehren, oftmals als Selbständige mit und ohne Angestellte oder als Minijobber auf 450-Euro-Basis.

“Ruhestand 4.0″

Doch wie wird der “Ruhestand 4.0″, der unweigerlich auf den vierten Akt der wirtschaftlichen Revolution, der Industrie 4.0 mit ihrer digitalen Vernetzung aller industriellen Prozesse folgen wird, aussehen? Was wird geschehen?

Ich glaube, dass eine zunehmende Polarisierung eintreten wird: Auf der einen Seite werden vor allem Fachspezialisten in stärkerem Maße und über viele Lebensjahre länger gebraucht, um mit ihren vornehmlich geistigen Fähigkeiten den Umbau der Wirtschaft zur Industrie 4.0 voranzubringen. Auf der anderen Seite wird ein großer Teil der Menschen, weil sie die Arbeit für ihre Rente brauchen, so lange wird möglich und auch unter ungünstigen körperlichen Bedingungen weiterarbeiten. Der Ruhestand als solcher, gerade kreiert in der digitalen Epoche, wird seine Existenzberechtigung nach kurzer Zeit schon wieder verlieren oder zeitlich nicht mehr als eigenständiger Lebensabschnitt erfahrbar sein. Das Zeitfenster des Ruhestandes wird sich wieder schließen, weil qualifizierte Arbeitskräfte die drohenden Wohlstandslöcher schließen und die Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu anderen Nationen aufrechterhalten müssen. Und weil die weniger Qualifizierten auf (lebens)lange Arbeitszeiten angewiesen sind, wollen sie nicht zu ärmlichen Sozialfällen werden.

Wenn wir also den großen Bogen schlagen: der Ruhestand scheint im Schatten der industriellen Entwicklung ein spät entstandenes Phänomen mit lediglich episodenhafter Verweildauer zu sein. Nutzen wir also den Ruhestand 3.0 als historische Chance zur Selbstverwirklichung und Selbstfindung – einen vergleichbare Lebensetappe im Anschluss an das Arbeitsleben wird es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr geben!

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen